Goiânia, Brasilien

Unfall
Bis zum 20. Oktober 1987 untersuchten Strahlentechniker 112.800 Personen auf radioaktive Kontamination. Es wurde festgestellt, dass 1000 Personen extern bestrahlt wurden. 249 Personen waren mit Cäsium-137 kontaminiert, 129 hatten das radioaktive Material lediglich an der Kleidung und 120 waren auch innerlich durch Inhalation oder Ingestion kontaminiert. Foto: © Karen Kasmauski/Corbis

In der brasilianischen Stadt Goiânia ereignete sich einer der schwersten zivilen Strahlenunfälle aller Zeiten. 1987 führte die Mitnahme eines Strahlentherapiegeräts mit Cäsium-137 aus einer leer stehenden Klinik durch Schrottsammler zur Verstrahlung von 249 Menschen. Vier von ihnen starben kurze Zeit später, mindestens 21 erlitten schwere Strahlenschäden. Die langfristigen Folgen des Unglücks wurden nie untersucht, die Dekontamination der betroffenen Stadtteile nur oberflächlich durchgeführt.

Foto: Bis zum 20. Oktober 1987 untersuchten Strahlentechniker 112.800 Personen auf radioaktive Kontamination. Es wurde festgestellt, dass 1000 Personen extern bestrahlt wurden. 249 Personen waren mit Cäsium-137 kontaminiert, 129 hatten das radioaktive Material lediglich an der Kleidung und 120 waren auch innerlich durch Inhalation oder Ingestion kontaminiert.
Foto: © Karen Kasmauski/Corbis

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Hintergrund

Am 13. September 1987 nahmen zwei junge Schrottsammler Teile eines Strahlentherapiegeräts aus der nicht gesicherten Ruine des Instituto Goiano de Radioterapia (IGR) mit, um das Altmetall zu verkaufen. Das Gerät war unbeaufsichtigt von den Verantwortlichen zurückgelassen worden. Sie entnahmen die darin befindliche Bleikapsel, die als Strahlenquelle rund 19 Gramm hoch radioaktives Cäsiumchlorid enthielt.

Beim Versuch, den Bleimantel abzutrennen, kamen sie mit der Strahlung in Kontakt, die bei Ihnen Erbrechen, Durchfall und Schwindelanfälle sowie „Verbrennungen“ an Händen und Armen verursachte. Am 19. September verkauften sie die Kapsel an den Schrotthändler Devair Alves Ferreira, der das darin enthaltene, in der Dunkelheit blau leuchtende Cäsiumchlorid entdeckte, es nichts ahnend Freunden und Familie zeigte und an sie verteilte.

Personen, die damit in Kontakt gekommen waren, zeigten bald Symptome von akuter Strahlenkrankheit: Erbrechen, blutige Durchfälle, Geschmacksverlust und Kräfteverfall und wurden in Krankenhäuser gebracht.

Am 28. September schöpfte die erkrankte Ehefrau des Schrotthändlers, Maria Gabriela den Verdacht, dass die Kapsel die Ursache sein könnte und brachte sie per Bus zum Gesundheitsamt von Goiânia. Noch am selben Tag wurde die Nationale Atomenergiekommission (CNEN) informiert. Erst am Morgen des 30. September traf ein CNEN-Team in Goiânia ein und begann mit der Absperrung der am stärksten radioaktiv kontaminierten Areale und der strahlentechnischen Untersuchung der Bevölkerung. Die erste Dekontamination der Verstrahlten fand in den Duschräumen des Olympiastadions statt. Das kontaminierte Abwasser gelangte ungefiltert in die Kanalisation.

Folgen für Umwelt und Gesundheit

Bis zum 20. Oktober 1987 untersuchten Strahlentechniker 112.800 Personen auf radioaktive Kontamination. Es wurde festgestellt, dass 1000 Personen extern bestrahlt wurden und 97 % von ihnen eine Dosis zwischen 0,2 mGy und 10 mGy erhielten. 249 Personen waren mit Cäsium-137 kontaminiert, 129 hatten das radioaktive Material lediglich an der Kleidung und 120 waren auch innerlich durch Inhalation oder Ingestion kontaminiert. Die geschätzte Strahlendosis rangierte zwischen einigen Millisievert bis zu einer Höchstdosis von sieben Sievert. Dosen von über einem Sievert können zu akuter Strahlenkrankheit führen, bei fünf Sievert stirbt jeder Zweite, zehn Sievert führen zum Tod.

Insgesamt wurden 49 Menschen in Goiânia stationär behandelt, 21 davon intensivmedizinisch. Dennoch starben bis Ende Oktober 1987 vier Menschen, darunter die sechsjährige Nichte des Schrotthändlers, Leide das Neves Ferreira, die eine geschätzte Strahlendosis von sechs Sievert aufgenommen hatte. Aufgrund der hohen Strahlung wurde sie in einem rund 700 kg schweren Bleisarg beerdigt und einzementiert.

Die Dunkelziffer unentdeckter Fälle dürfte jedoch hoch gewesen sein, da nicht die gesamte Bevölkerung Goiânias mit damals rund einer Million Einwohner*innen untersucht wurde und das radioaktive Cäsium bereits über weite Teile der Stadt verbreitet war. Zudem befanden sich aufgrund eines Motorsportevents viele Tourist*innen und Motorsportler*innen aus aller Welt vor Ort. Als die CNEN mit Absperrungen und Untersuchungen begann, waren die meisten bereits abgereist.

Ausblick

Offiziell hat die Regierung bis heute nur vier durch das Cäsium-137 verursachte Todesfälle anerkannt. Doch Zahlen von Gewerkschaften, Opferverbänden und Staatsanwaltschaft nach hat der Unfall bis heute mindestens 66 Menschenleben gekostet, etwa 1.400 Menschen wurden kontaminiert. Dazu gehören auch Ärzt*innen und medizinisches Personal sowie Feuerwehrleute, Polizist*innen und Arbeiter*innen, die bei der Dekontamination eingesetzt wurden. Doch nur ein Teil von ihnen ist als Opfer anerkannt und erhält eine kleine Opferrente. Viele Betroffene kämpfen weiterhin um Entschädigung und kostenfreie medizinische Betreuung.

Die Dekontamination der Stadt begann im November 1987. Häuser wurden abgerissen, Straßen und Plätze so gut es ging gereinigt, Asphalt und Erde abgetragen, das kontaminierte Material in Metallfässer verpackt. Insgesamt erzeugten 19 Gramm Cäsium-137 rund 6.000 Tonnen strahlenden Abfall, für den die CNEN Jahre später 23 Kilometer von Goiânia entfernt ein Endlager in einem Naturschutzgebiet einrichtete. Die beiden kontaminiertesten Orte der Stadt wurden mit einer Betonschicht versiegelt.

Der Fall Goiânia war für Behörden und Strahlenschutzkomitees weltweit ein Lehrstück radioaktiver Kontamination einer modernen Großstadt. Die Krankheitsverläufe der Betroffenen boten neue Einblicke in die Auswirkungen von Radioaktivität auf den menschlichen Körper. Es ist bedauerlich, dass langfristige Untersuchungen bezüglich des Risikos der Krebsentstehung bislang nicht veröffentlicht wurden. Basierend auf Erfahrungen von Tschernobyl, Hiroshima und Nagasaki ist anzunehmen, dass zahlreiche Krebsfälle durch die radioaktive Exposition verursacht wurden und auch noch in Zukunft auftreten werden. Eine unbekannte Menge an Cäsium-137 sickert weiterhin aus dem verseuchten Boden unterhalb der versiegelten Flächen ins Grundwasser. Das tatsächliche Ausmaß der Strahleneffekte wird vermutlich niemals vollständig erfasst werden. In vielerlei Hinsicht können andere Teile der Welt und Hibakusha in anderen Ländern von dem Unglück in Goiânia lernen, vor allem von der inadäquaten Dekontamination und der fehlenden Nachbetreuung der Exponierten.

(Dank an Norbert Suchanek für die Überarbeitung und aktualisierung dieses Textes/ Septmeber 2022)

Quellen

-16.691448, -49.268188