Tschernobyl, Ukraine

Unfall
Der Katastrophen-Reaktor Nr. 4. Am 26. April 1986 wurde das 1.000 Tonnen schwere Dach durch die gewaltige Explosion angehoben, und das grafithaltige Inventar fing Feuer. Eine Wolke mit radioaktivem Rauch zog über weite Teile Ost- und Mitteleuropas. Foto: The Bellona Foundation / creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0

Die Kernschmelze von Tschernobyl im April 1986 stellt den mit Abstand größten Unfall in der Geschichte der zivilen Atomwirtschaft dar. Ganze Landstriche wurden verseucht und für Generationen unbewohnbar gemacht. Der radioaktive Niederschlag führte zu Zehntausenden von Krebserkrankungen, Todesfällen, Fehlgeburten und Missbildungen – nicht nur in der ehemaligen Sowjetunion.

Foto: Der Katastrophen-Reaktor Nr. 4. Am 26. April 1986 wurde das 1.000 Tonnen schwere Dach durch die gewaltige Explosion angehoben, und das grafithaltige Inventar fing Feuer. Eine Wolke mit radioaktivem Rauch zog über weite Teile Ost- und Mitteleuropas. Foto: The Bellona Foundation / creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0

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Hintergrund

Der erste Atomreaktor wurde in Tschernobyl zwischen 1971 und 1977 gebaut. Bis 1983 wurde die Anlage um drei weitere Reaktoren erweitert. Im benachbarten Städtchen Prypjat lebten die ca. 18.000 Bewohner fast alle von Jobs in der Atomindustrie. Der Super-GAU von Tschernobyl begann während eines Systemtests am 26. April 1986. Eine plötzliche Leistungssteigerung des Reaktors machte eine Schnellabschaltung notwendig. Diese führte zur Erreichung einer überkritischen Masse und so zum Beginn einer atomaren Kettenreaktion innerhalb des Reaktors. Das 1.000 Tonnen schwere Dach wurde durch die Wucht der Explosion angehoben, und das grafithaltige Inventar fing Feuer. Eine Wolke mit radioaktivem Rauch zog über weite Teile Ost- und Mitteleuropas und überzog ganze Landstriche mit radioaktivem Niederschlag. Vor allem nördlich des Kraftwerks, in Teilen Weißrusslands, gingen große Mengen Radioaktivität nieder, aber auch Teile Skandinaviens, Kleinasiens oder der Bayerische Wald wurden mit radioaktivem Jod-131 oder Cäsium-137 überzogen. Der Super-GAU wurde tagelang vor der Bevölkerung geheim gehalten. Evakuierungs- und Schutzmaßnahmen wurden stark verzögert.

Folgen für Umwelt und Gesundheit

Die ersten Opfer der Atomkatastrophe waren die rund 800.000 Liquidatoren, meist junge Rekruten, die aus der ganzen Sowjetunion nach Tschernobyl gebracht wurden, um die Katastrophe unter Kontrolle zu bringen. Mit bloßen Händen mussten sie strahlenden Schutt über das Gelände tragen und einen gigantischen Sarkophag über dem havarierten Reaktorblock errichten. Schätzungsweise 14 bis 15 % von ihnen waren 2005, also 19 Jahre nach dem Unglück, bereits verstorben; mehr als 90 % von ihnen sind erkrankt, viele vermutlich aufgrund ihrer hohen Strahlenexposition.

Die Explosionen und das wochenlange Feuer im Reaktorkern führten zur Freisetzung von radioaktiven Partikeln. Über Atemluft, Nahrung oder Wasser aufgenommen, setzen sich diese Stoffe im menschlichen Körper ab, verstrahlen das umliegende Gewebe und führen zu Zellschäden, Mutationen und Krebs. Drei Radioisotope spielen dabei eine besonders wichtige Rolle: Jod-131 führt vor allem zu Schilddrüsenkrebs, Cäsium-137 zur Entstehung solider Tumoren und Strontium-90 zu Leukämie und Knochenkrebs. Die gesundheitlichen Folgen beschränken sich nicht nur auf die hoch kontaminierten Gegenden der ehemaligen Sowjetunion, sondern auch Teile von Nord-, Mittel- und Südosteuropa. Da keine groß angelegten epidemiologischen Studien durchgeführt wurden, stehen zur Abschätzung der Gesundheitsfolgen nur Berechnungen auf der Basis von Kollektivdosisabschätzungen zur Verfügung. Der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR) schreibt, dass die Bevölkerung Europas durch Tschernobyl einer Kollektivdosis von ca. 400.000 Personen-Sv und einer Schilddrüsendosis von etwa 2.400.000 Personen-Gy ausgesetzt wurde. Mithilfe international akzeptierter Risikofaktoren lässt sich so abschätzen, dass ca. 21.000 Menschen infolge von Tschernobyl Schilddrüsenkrebs und weitere 36.000 bis 140.000 andere Krebsarten entwickeln werden. Eine Studie des International Journal of Cancer kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass in Europa bis zum Jahr 2065 etwa 41.000 zusätzliche Krebsfälle und mehr als 15.000 Krebstode durch Tschernobyl zu erwarten sind. Auch wenn die Zahlen im Vergleich zur betroffenen Gesamtbevölkerung relativ niedrig erscheinen mögen, ist jede Erkrankung für die betroffene Familie ein schwerer Schicksalsschlag. Zusätzlich entsprechen diese Schätzungen mit hoher Wahrscheinlichkeit nur einem Bruchteil der wahren Folgen der Atomkatastrophe, da sowohl die Kollektivdosen als auch die Risikofaktoren systematische Unterschätzungen darstellen. Zudem konnten in den betroffenen Gebieten, auch in Deutschland, infolge des radioaktiven Niederschlags ein Anstieg von Totgeburten, Missbildungen, Down Syndrom, Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen nachgewiesen werden. Die psychologischen Folgen, sowie die sozialen und ökologischen Effekte der Katastrophe dürfen ebenfalls nicht vergessen werden.

Ausblick

1986 wurde ein temporärer Sarkophag um den havarierten Reaktor gebaut, der jedoch mittlerweile zerfällt. Um die geschätzten 180 Tonnen hoch radioaktiven Mülls innerhalb des Reaktors zu schützen, gab die ukrainische Regierung einen neuen Sarkophag in Auftrag. Die Kosten werden auf über 1,5 Milliarden US-Dollar beziffert. Die endgültige gesundheitliche Bilanz der Tschernobylkatastrophe wird sich nie exakt ermitteln lassen. Genomische Instabilität kann noch mehrere Generationen später zu Folgeschäden bei den Nachkommen der Betroffenen führen. Tschernobyl ist mehr als nur ein einmaliger Unfall – Tag für Tag und Jahr für Jahr werden Menschen an den Strahlenfolgen erkranken und sterben. Das genaue Ausmaß der strahlenassoziierten Erkrankungen, Fehlbildungen und genetischen Folgen wird vermutlich nie erfasst werden. Die sowjetische Regierung, die Atomindustrie und Lobbyverbände wie die Internationale Atomenergie Organisation IAEO haben in einem Versuch, die Akte Tschernobyl zu schließen, kritische Publikationen erfolgreich verhindern können und die Leiden der Liquidatoren zynischerweise zu Folgen schlechter Lebensführung erklärt. Dabei werden die Auswirkungen dieser Katastrophe viele Tausende Familien noch lange begleiten – auch sie sind Hibakusha. Die Akte Tschernobyl darf nicht geschlossen werden.

Weiterführende Lektüre

Studie der IPPNW: „30 Jahre Leben mit Tschernobyl, 5 Jahre Leben mit Fukushima“ vom Februar 2016: issuu.com/ippnw/docs/ippnw-tschernobyl-studie-2016

Quellen

51.284467, 30.221583